Kern´s Europa nach dem Brexit
Wie ich ganz richtig prognostiziert habe, ist der Sommer endlich da und er ist heiß. Wie lange die hohen Temperaturen andauern, weiß nur Fellners „Österreich“. Was „Österreich“ nicht weiß, aber was sich jetzt schon sagen lässt, ist, dass es ein politischer Sommer wird, in dem kein Platz für ein Loch sein wird.
Brexit, VfGH-Anfechtung, eine hoffnungsfrohe österreichische Sozialdemokratie, die US-Wahlen und eine aufgeheizte politische Atmosphäre im Netz und auf den Straßen werden keine Atempause zulassen, selbst wenn das Parlament für ein paar Wochen im Urlaub ist. Und der Europameister ist auch noch nicht gekürt. Hinzu kommen Unwägbarkeiten wie Unwetter- oder Terrorgefahren, die in diesem Ausmaß in den Plänen der Regierenden vor 30 oder 40 Jahren keine ähnlich wichtige Rolle spielten. Man weiß ja wirklich nie, was kommt.
Abschied von den Briten
Die Briten wollen mehrheitlich also nicht mehr Teil Europas sein. Schade, und zwar weniger wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen oder gar wegen des unsympathischen Finanzplatzes London, der Mieten und Lebenskosten für die Normalbevölkerung in absurde Höhen treibt. Schade vielmehr, weil damit erstens die Zersplitterung Großbritanniens beginnt und wir uns als fade Kontinentaleuropäer an die Queen als oberste Monarchin des Königreiches fast schon gewöhnt hatten. Schade aber auch, weil die Briten natürlich zu Europa gehören, so selbstverständlich wie die Schweden, die Griechen und Portugiesen. Der Ärmelkanal ist da keine Ausrede, über den führen nowadays gleich mehrere Wege in kürzester Zeit. Das gemeinsame Erbe, das man mit den USA teile, gilt da ebensowenig, auch wenn es viele Briten und US-Amerikaner offensichtlich nicht glauben wollen. Die Briten verbindet mit den Angelsachsen und Normannen eine weitaus längere Geschichte als mit jenen Iren, Deutschen, Polen und Italienern, die einst den Neuen Kontinent besiedelten. Aber egal jetzt, zurück ins Jahr 2016.
Demokratie kann unangenehm sein
Ich versuche mich nicht aufzuregen, zu belehren oder gar global zu hoffen. Ich will nur das Geschehen möglichst wertfrei kommentieren. Die alten Briten haben also über das Schicksal der Jüngeren entschieden. Die Landbevölkerung vorwiegend über jenes der Städter. Und die Engländer und Waliser über jenes der Schotten und Nordiren. Das ist Demokratie, so unangenehm sie ist. Neben einigen anderen Gründen für das Ergebnis des Brexit liegt wohl ein Grund in der Tatsache, dass man DEN Menschen, also doch offensichtlich einem Großteil der Bevölkerung, nicht jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang vormachen kann, es würde sich für sie zum Guten wenden, wenn sie denn brav ihr Kreuz gemäß den Vorstellungen der Regierungsparteien machten.
Einfache Weltanschauung führt zu einfachen Antworten
Die Löhne steigen europaweit und in den USA nicht in dem Ausmaß, wie die Gewinne der Unternehmen und Konzerne. Dafür muss ich Volkswirtschaft, John Maynard Keynes oder Friedrich August von Hayek nicht studiert haben, das sehen Menschen ohne Universitätsabschluss seit 20 Jahren. Oder mehr. Denen ist aber am Ende eines langen, bandscheibenabnützenden Tages egal, wer daran schuld ist. In der Regel sind es die regierenden Politiker. Und die stammen, mit sehr wenigen Ausnahmen, seit 20 oder mehr Jahren aus den Reihen der Sozialdemokraten oder Konservativen. Oder der Republikaner und der Demokraten. Es kann sich nicht ausgehen, auch wenn in manchen universitären Blasen der Gedanke noch nicht verhaftet, dass ein Großteil der Bevölkerung beim ohnehin bescheidenen Wohlstandszuwachs durch die Finger schaut. Und eines ist dann systemimmanent: einfache Weltanschauung führt zu einfachen Antworten und Lösungen. Die Zeit, sich erst dann mit politischer Ideengeschichte zu beschäftigen, ist schlicht nicht mehr vorhanden.
Referendum ohne Not
Ein Gedanke noch zum Brexit-Referendum selbst: auch wenn ich der Ansicht bin, dass es richtig ist, das Volk in so einer wichtigen Frage nach mehr als 40 Jahren Mitgliedschaft auch einmal abstimmen zu lassen, bleibt ein Faktum: Premierminister David Cameron hat diese Abstimmung ohne Not von außen angesetzt, er folgte damit einem reinen innerparteilichen Reflex. Soll heißen, ein Konflikt innerhalb der Tories wird so zum Verstärker nationalistischer Ideen in Europa und läutet damit auf jeden Fall ein neues Kapital des europäischen Integrationsprozesses ein.
Kern – eine berechtigte Hoffnung
Ein wesentlich erfreulicher Punkt ist die Erscheinung Christian Kern. Selbstbewusst und eloquent ebenso wie reflektiert und in gewissen Phasen unsicher, zumindest in seiner 80-minütigen Parteitagsrede am Samstag. Das macht ihn nicht nur sympathisch, das gibt einer darbenden Sozialdemokratie, die es in ganz Europa viel stärker und lauter bräuchte, Hoffnung, dass es auch anders gehen könnte. Noch bleibe ich weiter vorsichtig, wie lange diese anfängliche Euphorie halten wird. Aber dass Kern im Gegensatz zu seinen Vorgängern Faymann, Gusenbauer und Schüssel sowieso als Kanzler verstanden hat, was notwendig ist und wie groß die Herausforderungen sind, davon bin ich überzeugt. Das ist bei all den Notwendigkeiten noch längst kein Blankoscheck für eine bessere Zukunft für die jüngere Generation und deren Kinder. Aber es ist aus meiner Sicht eine berechtigte Hoffnung. Und die gab es in Österreich schon lange nicht mehr.
Dazu vier Fragen, die ich gerne mit Interessierten diskutieren würde, aufgeworfen von Christian Kern bei seiner Parteitagsrede am 25. Juni 2016 und ein wenig umformuliert von mir.
„Wie kann die Sozialdemokratie in Österreich und Europa wieder die treibende Kraft werden?“
„Wie kann die Sozialdemokratie dafür sorgen, dass es faire Chancen in unserer Gesellschaft gibt und welche Herausforderungen gilt es dabei zu bewältigen?“
„Wie kann die Sozialdemokratie dafür sorgen, dass die Entwicklung von Wirtschaft und Technologie für sie und nicht gegen sie arbeitet?“
„Wie kann die Sozialdemokratie für eine Politik sorgen, die das Beste in uns hervor bringt und nicht Angst, Hass und Intoleranz schürt?“
Ich freue mich über Vorschläge und Debattenbeiträge und bedanke mich sehr herzlich für die Zeit und für das Lesen des Artikels.
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