Alles oder nichts
Zumindest für uns Menschen gilt: Alles, was du im Leben tust, sagst oder unterlässt zu tun, ist wichtig. Es gilt aber auch angesichts der Vergänglichkeit von allem in einem unendlichen Raum um uns, dass nichts wichtig ist und alles, was du tust, sagst und nicht tust, keine Bedeutung hat. An dieses Paradoxon schließt auch automatisch die Frage an, ob der Mensch Herr seines eigenen Schicksals ist oder ob ohnedies alles im Leben – und damit letztendlich der Lauf der Welt – vorher bestimmt ist. Da wir aber alle mit einem Bewusstsein ausgestattet sind, entscheiden wir uns konsequenterweise dafür, immer weiter zu streben und für unser Leben das Beste zu wollen. Das bedeutet, wir entscheiden uns für das Tun, unserem Handeln Bedeutung zuzuschreiben und uns in jedem Augenblick für den Meister unseres Lebens zu halten. Zu beachten ist, dass dieses Streben nach Glück fast jeder der 7,5 Milliarden Menschen auf der Erde in sich trägt. Und nicht zu vergessen ist, dass dies auch für unsere Vorfahren vor 200, 500 oder 2000 Jahre galt, deren Namen, deren Lächeln und deren kauzige Eigenschaften wir nie gekannt haben werden.
Fragt man Sterbende, was vom Leben bleibt, welche Erinnerungen und Momente, fragt man also nach dem was bleibt, vielleicht damit auch nach dem Sinn des Lebens, sind es meist Stunden, Tage, Phasen der Liebe, Freiheit, Ruhe und Freude, des Bei-Sich-Seins, des Reisens und Lachens. Meist im Zusammenhang mit Menschen, die man liebt. Oder Tätigkeiten, die man liebt. Ich glaube nicht, dass sich Steve Jobs oder meine verstorbenen Großeltern in ihren Ansichten darüber großartig unterscheiden. Ich sehe weit und breit keine weltweiten und länderübergreifenden Initiativen, diese Momente und Phasen für Menschen zu fördern und zu vermehren. Obwohl immer mehr Menschen auf der Erde sich eine tiefgreifende Veränderung im Umgang mit der Natur wünschen, obwohl immer weniger Menschen daran glauben, dass ein weiter-so noch lange funktionieren wird, machen wir weiter. Als Antworten auf dieses Verhalten kommen in Frage: „So schlimm wird es schon nicht werden.“ „Mich wird es nicht mehr betreffen.“ „Was soll ich als Einzelner machen?“ Eine erste Konsequenz auf wachsende Zukunftsängste und globale Unsicherheiten ist die Zunahme des Nationalismus und der Rückzug auf die eigene nationale Identität. Ich halte das nur für einen Vorboten für weit drastischere Entwicklungen, die weltweit einsetzen werden. Es wird mit Sicherheit schlimm werden und es wird jeden treffen, davon bin ich überzeugt. Der Rückzug auf die Identität als Volk ist überholt, wir stecken da alle gemeinsam als Menschen mit drin.
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, schreibt Bertolt Brecht in der „Dreigroschenoper“ 1928. Es ist an der Zeit, 90 Jahre danach, sich auf das zu besinnen, was jedes Leben zu einem gelungenen macht. Die Zeit mit anderen Menschen, stumm und klein zu werden vor der Schönheit der Natur, vor Glück sanft über dem Boden zu schweben. Es ist an der Zeit, die Liebe als bewusstes Lebewesen zu erlernen und zu kultivieren, als bewusstes Lebewesen, dem es nur gut gehen kann, wenn es auch anderen Menschen und der Natur, der Erde, gut geht. In der globalisierten Welt von heute heißt das nichts anderes, wir haben keine andere Wahl, als über uns, unser Land, unseren Kontinent und über den Augenblick hinauszudenken. Wir müssen Nein sagen lernen zu einem Wirtschaftssystem, dass uns mit Brot und Spielen bei Laune hält und von uns demokratische Legitimation erwartet, in dem wir alle paar Jahre ein Kreuz auf den Wahlzettel malen, der aber nichts am weiter-so verändert. Wir können noch Jahre zuschauen, aber der Hass wird während dessen zunehmen. Online und offline. Die Aufgabe, die Liebe als mitfühlendes Lebewesen zu erlernen und zu kultivieren, wird dadurch nur umso größer.
Es gibt seit einigen Jahren den netten Spruch „Vermehrt Schönes“, den man hin und wieder als Graffiti oder als Sticker entdecken kann. Ich bin dafür, diesen Spruch um „Vermehrt Liebe“ zu erweitern. Zweitens bin ich für weniger Arbeiten und mehr Zeit für alles andere, was wichtig ist. Partner, Kinder, Freunde, private Initiativen, mehr Zeit für Bildung statt Ausbildung, Kunst, Kultur, Sport und mehr Picknicks im Park und auf Waldlichtungen. Und drittens will ich in einem ersten Schritt, dass der Wachstumsbegriff um die Faktoren Lebenserwartung, soziale Gerechtigkeit, Ausbau des öffentlichen Verkehrs, gleicher Lohn für Männer und Frauen, Kinderbetreuungsstätten, Anzahl der Wanderzirkusse, Anzahl der Alkohol- und Drogenkranken und Einhaltung der Klimaziele in einer Volkswirtschaft erweitert wird. Das Ziel ist natürlich, so schnell und unblutig wie möglich weg vom Wachstumsbegriff in der Ökonomie zu kommen. Nichts weniger. Die Alternative ist noch mehr globale Ungerechtigkeit vor dem Hintergrund einer sich weiter aufheizenden Atmosphäre bei gleichzeitigem zunehmenden Mangel an natürlichen Ressourcen.
Ich weiß weder wie die Geschichte weitergeht noch was mich nach dem Erlöschen des Bewusstsein erwartet. Aber vor die Wahl gestellt, dass jede Handlung wichtig ist oder nichts von Bedeutung ist, weil jeder meiner Schritte weniger Gewicht hat als ein Sandkorn, entscheidet sich mein egoistisches Ich dafür, an dieser Reise durch die Geschichte weiter zu schreiben. Love ist the only engine of survival, singt Leonard Cohen. Damit hat er recht.
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